Leme (Rio de Janeiro)

Leme
Koordinaten 22° 57′ 44″ S, 43° 10′ 0″ WKoordinaten: 22° 57′ 44″ S, 43° 10′ 0″ W

Basisdaten
Staat Brasilien
Bundesstaat Rio de Janeiro
Stadt Rio de Janeiro
Zona Sul
Fläche 1 km²
Einwohner 14.799 (2010)
Dichte 15.101 Ew./km²

Leme (portugiesisch ‚Ruder‘) ist ein kleiner Stadtteil (bairro) von Rio de Janeiro.

Lage

Innerhalb der Großstadt Rio de Janeiro liegt Leme in der Unterpräfektur Zona Sul und in der Verwaltungseinheit Copacabana, direkt zwischen dem offenen Atlantik im Süden und tropisch bewaldeten Granitfelsen, die den Stadtteil im Norden und Osten einrahmen. Diese Felsen sind der 238 Meter hohe Morro da Babilônia im Norden, dessen Hang teilweise von Favelas besiedelt ist, der 127 Meter hohe Morro do Urubú sowie der Morro do Leme im Osten, dessen etwa 124 Meter hohes Kap mit dem Fort Duque de Caxias bebaut ist. Leme wird im Westen begrenzt durch die Avenida Princesa Isabel, die durch ihre Breite eine gewisse Zäsur zum Stadtteil Copacabana bildet. Die im Meer vor dem Eingang zur Guanabara-Bucht liegende, unbesiedelte Ilha de Cotunduba gehört verwaltungstechnisch zu Leme.

Strand und Stadtansicht in Leme an der Mureta do Leme bzw. am Caminho dos Pescadores
Luftbild mit Ansicht des Morro do Leme, dahinter die Ilha de Cotunduba
Luftbild mit Ansicht des Corcovado im Hintergrund

Öffentlicher Raum

Leme verfügt entlang der mit Hochhäusern bebauten Prachtstraße Avenida Atlântica über einen rund 800 Meter langen, etwa 150 Meter breiten Sandstrand, der mit dem kilometerlangen Strand der Copacabana eine landschaftliche Einheit bildet. Spektakulär ist der Stadt- und Naturraum entlang der 8 Meter breiten Strandpromenade Calçadão do Leme e de Copacabana.[1] Der Raum ist bekannt für seine kosmopolitische Urbanität. Das gesamte Setting aus Strand, Promenade, hoher moderner Bebauung und darüber aufragenden Felsen, von denen der hinter dem Morro da Babilônia und dem Morro do Urubú aufsteigende Zuckerhut als Wahrzeichen der Stadt der berühmteste ist, bildet die international bekannte Vedute und Waterfront Rio de Janeiros.[2] Im Norden enden Sandstrand und Strandpromenade am Fuße des Morro do Leme in einer Felsformation, in die der Caminho dos Pescadores als Fußweg und Anglersteg eingekerbt ist. Ein Mäuerchen namens Mureta do Leme trennt den befestigten Bereich vom Sandstrand. Eine 2016 entstandene Bronzeskulptur des Bildhauers Edgar Duvivier erinnert dort an die Schriftstellerin Clarice Lispector, die bis zu ihrem Tod in Leme wohnte. Die verkehrliche Binnenerschließung des eher von gehobenen Einkommensschichten bewohnten und von Touristen belebten Stadtviertels bildet die Rua Gustavo Sampaio, eine Wohn- und Geschäftsstraße, die von Bäumen und hoher Bebauung gesäumt ist.

Namensherkunft

Zur Etymologie des Ortsnamens gibt es verschiedene Theorien. Die erste leitet den Namen von der Form des Morro do Leme ab, die einem Ruder ähneln soll. Die zweite Annahme geht davon aus, dass Pedro Leme, ein im 16. Jahrhundert nach Brasilien ausgewanderter Madeiraner, der Namensgeber sei. Als wahrscheinlich gilt, dass ein bäuerliches Anwesen des 18. Jahrhunderts mit der Bezeichnung „Chácara de Francisco Pereira Leme“ bzw. „Chácara do Leme“ den Namen gab.[3]

Baugeschichte

Ursprüngliche Küste im Bereich von Leme und Copacabana, Fotografie von Marc Ferrez, 1880
Neue Straße, heute Avenida Princesa Isabel, und Túnel Novo, 1907
Rua Gustavo Sampaio, 1907
Leme (im Vordergrund) und Copacabana, 1920
Strandpromenade Calçadão an der 1906 erbauten Avenida Atlântica in Leme bei einem Hochwasser, 1921

1873 begann die Gesellschaft „Empreza de Construcções Civís“ des aus Budapest gebürtigen ungarndeutschen Unternehmers Alexander (Alexandre) Wagner (1833–1894) und seiner Schwiegersöhne Otto Simon und Theodoro Duvivier Grundstücke im Bereich Leme und Copacabana zu erwerben. Die rasante städtebauliche Entwicklung des Gebiets zu einem Küstenbadeort nach einem ersten Plan, den sie 1874 vorgelegt hatten,[4] setzte erst 1892 ein. In diesem Jahr stellte die Verkehrsgesellschaft Companhia Ferro-Carril do Jardim Botânico im Rahmen einer ihr erteilten Konzession vom Stadtteil Botafogo aus einen ersten Tunnel fertig, den Túnel Alaor Prato oder Túnel Velho. Dieses Bauwerk durchstieß den Bergrücken, welcher die zentralen Teile der Stadt vom offenen Meer trennte, und eröffnete die Vermarktung der Flächen als Bauland. Ein 1894 geschaffener Plan, der Straßen auswies, ordnete die Bebauung. Bald folgte die Inbetriebnahme einer ersten Straßenbahnlinie, die 1901 elektrifiziert und 1903 bis Leme verlängert wurde. Von 1904 bis 1906 wurde weiter nördlich in der Achse der heutigen Avenida Princesa Isabel ein zweiter Tunnel, der Túnel Novo oder Túnel Carioca, heute Túnel Engenheiro Coelho Cintra, einschließlich einer weiteren elektrifizierten Straßenbahnlinie gebaut, so dass die Erschließung nunmehr modernsten urbanen Verkehrsanforderungen genügte.[5]

Dies löste einen Bauboom und einen beträchtlichen Anstieg der Einwohnerzahl aus. Bürger der Ober- und Mittelklasse, die zuvor im Stadtzentrum gelebt hatten, zogen damals in die bevorzugten südlichen Stadtteile, so auch nach Leme.[6] Eklektizistische Villen prägten die erste Phase dieser Suburbanisierung am Meer und schufen die Grundlage für eine Kolonie, die in den 1920er Jahren für ihre mondäne Seebad-Atmosphäre bekannt war. 1928 entstanden die ersten modernen Wohnhochhäuser[7][8] und veränderten das Ortsbild. Die verstärkte wirtschaftliche Konjunktur seit den 1920er Jahren und technische Entwicklungen, wie die des Aufzugs und des Stahlbetonbaus, sowie der wenig reglementierte Städtebau ermöglichten auf der Grundlage der Bodenspekulation den Bau von Hochhäusern auf kleinen Parzellen in hoher städtebaulicher Dichte. Bis in die 1960er und 1970er Jahre, in denen besonders Bauten im Internationalen Stil hinzukamen und so das heute vorherrschende Stadtbild entstand, erwarben Leme und Copacabana den Ruf, eine in geschlossener Bauweise, Bebauungsdichte und -höhe nordamerikanischen Downtowns ähnelnde, „vertikal“ gebaute Vorstadt zu sein,[9] was zeitgenössische Modernisten wie Lúcio Costa als städtebauliche Verfehlung kritisierten.[10]

Die Favelas Babilônia und Chapéu Mangueira am Hang des Morro da Babilônia entwickelten sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus Wohnplätzen von Arbeitern, die beim Bau und Ausbau des Forts Duque de Caxias beschäftigt worden waren. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem infolge des Bevölkerungswachstums des 20. Jahrhunderts, der Landflucht und örtlicher Verdrängung, ergaben sich deutliche Zuzüge, die die Wohnplätze zu Favelas anwachsen ließen, besonders im Zeitraum der 1910er bis 1960er Jahre. Vergeblich versuchten Grundbesitzer und Immobilienentwickler das Anwachsen der Armensiedlungen zu verhindern. In Leme haben diese informellen Ansiedlungen heute rund 4000 Einwohner und bilden nach Stadterneuerungsmaßnahmen der Stadt Rio de Janeiro im Rahmen ihrer Aufwertungs- und Sanierungsstrategie Morar Carioca sowie nach Interventionen der Unidade de Polícia Pacificadora, die zur Vorbereitung auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 durchgeführt wurden, relativ gut integrierte, teilweise gentrifizierte Teile des Viertels.[11][12][13] Ergänzt um verschiedene touristische Angebote entstanden dort auch Gaststätten- und Beherbergungsbetriebe. Weitgehend entwaldete Flächen des umgebenden Bergrückens wurden ab 1995 wiederbepflanzt.[14] Die Immobilienwerte innerhalb und außerhalb der Favelas stiegen beträchtlich an.[15] Die Favelas dienten für die Filme Orfeu Negro (1959) und Tropa de Elite (2007) als Kulisse.

Calçadão heute mit dem signifikanten Wellenmuster als Zeichen der Corporate Identity Rio de Janeiros, 1970 landschaftsgestalterisch überarbeitet und ergänzt durch Roberto Burle Marx

Die gepflasterte Strandpromenade, genannt Calçadão, entstand bis 1919 beim Bau der Avenida Atlântica (1906) durch portugiesische Ingenieure. Nach dem Vorbild des Rossio in Lissabon entwarfen sie ein sich symbolisch auf das Meer beziehendes Wellenmuster aus weißem Kalkstein und schwarzem Basalt. Anfang der 1970er Jahre modernisierte der Landschaftsarchitekt Roberto Burle Marx die gesamte Promenade nach einem einheitlichen Entwurf. Seine Komposition fügte dem Bild unter anderem die signifikanten Kokospalmenhaine hinzu. Das beibehaltene Wellenmuster avancierte zu einer Medienikone und zu einer Marke Rio de Janeiros. Es ist als Symbol auf vielen Produkten zu sehen, bildet ein immer wieder auftauchendes Erkennungszeichen im touristischen Marketing und repräsentiert die Corporate Identity der Stadt und ihrer Einwohner, der Cariocas.[16] 1991 wurde der Calçadão von dem Instituto Estadual do Patrimônio Cultural zum Kulturerbe erklärt.[17]

Bronzebild für Clarice Lispector und ihren Hund Ulisses auf der Mureta do Leme, 2016 geschaffen von Edgar Duvivier

Literatur

  • Helmuth Taubald, Nicolas Stockmann: Rio de Janeiro. Dumont, ISBN 978-3-6164-1165-1, Köln 2017, S. 26.
  • Leme und Copacabana. In: Nicolas Stockmann, Werner Rudhart, Helmuth Taubald, Jochen Österreicher, Carl Goerdeler: Brasilien. Stefan Loose Travel Handbücher, Dumont, Köln 2024, ISBN 978-3-6160-3517-8, S. 244 (Google Books).
Commons: Leme (Rio de Janeiro) – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Hinter dem Felsen Arpoador setzt sich der Calçadão über die Stadtteile Ipanema und Leblon in einem anderen Muster fort.
  2. Elizabeth Macdonald: Urban Waterfront Promenades. Routledge, New York 2018, ISBN 978-1-138-82421-8, S. 29–34 (Google Books)
  3. Ricardo Nunes Borga: O Leme Pela Fotografia. Passado e Presente. Eigenverlag, Rio de Janeiro 2019, S. 9 (Google Books)
  4. Elizabeth Dedouzart Cardoso, Lilian Fester Vaz, Maria Paula Albernaz, Mario Aizen, Roberto Moses Pechman: Capacobana. História dos Bairros. Memória urbana. João Fortes Enghenaria, Rio de Janeiro 1986
  5. In den 1940er Jahren wurde dieser Tunnel erweitert und parallel der Túnel Engenheiro Marques Porto als zweite Tunnelröhre gebaut.
  6. Nubia Beray Armond, João Lima Sant’Anna Neto: The Urban Climate System and the Impacts of Flooding on Rio de Janeiro, Barzil. In: Cristián Henríquez, Hugo Romero (Hrsg.): Urban Climates in Latin America. Springer, Cham 2019, ISBN 978-3-319-97012-7, S. 260 (Google Books)
  7. Orde Morton: Rio. The Story of the Marvelous City. Friesen Press, Victoria/British Columbia 2015, ISBN 978-1-4602-5457-8, S. 161 ff. (Google Books)
  8. Teresa A. Meade: „Civilizing“ Rio. Reform and Resistance in a Brazilian City, 1889–1930. The Pennsylvania State University Press, University Park/Pennsylvania 1997, ISBN 0-271-01607-8, S. 80 (Google Books)
  9. Tom Angotti: Urban Latin America: Periphery, Informality, and Inequality. In: Tom Angotti: Urban Latin America. Inequalities and Neoliberal Reforms. Rowman & Littlefield, Lanham/Maryland 2017, ISBN 978-1-4422-7448-8, S. 11 (Google Books)
  10. Lawrence A. Herzog: Barra da Tijuca: The Political Economy of a Global Suburb in Rio de Janneiro, Brazil. In: Tom Angotti: Urban Latin America. Inequalities and Neoliberal Reforms. Rowman & Littlefield, Lanham/Maryland 2017, ISBN 978-1-4422-7448-8, S. 176 (Google Books)
  11. Morar Carioca: Upgrading Informal Settlements in Rio de Janeiro, Webseite im Portal blogs.iadb.org, abgerufen am 5. Februar 2025
  12. Jo Griffin: Eine Favela ist kein Zoo. In: der Freitag, 27. Juli 2016, abgerufen am 5. Februar 2025
  13. Interview mit dem Stadtplaner Orlando Alves dos Santos: Die Reurbanisierung der Favelas in Rio – Ein uneinlösbares Versprechen? Beitrag im Portal bpb.de, 2. August 2016, abgerufen am 5. Februar 2025
  14. Chapéu Mangueira and Babilônia National Park. In: Elisa Silva (Hrsg.): Pure Space. Expanding the Public Sphere through Public Space Transformations in Latin American Spontaneous Settlements. Actar D, 2020, ISBN 978-1-6384-0917-5, S. 80 ff. (Google Books)
  15. Neiva Vieira da Cunha: Public Policies and Tourist Saturation in the Favelas of Rio de Janeiro. In: Claudio Milano, Joseph M. Cheer, Marina Novelli (Hrsg.): Overtourism. Excesses, Discontents and Measures in Travel and Tourism. CABI, Wallingford/Oxfordshire 2019, ISBN 978-1-78639-982-3, S. 159 (Google Books)
  16. Guilherme Cruz de Mendonça: Biocultural diversity at Rio de Janeiro’s urban beaches: Wellbeing, belonging and conflict. In: Michelle L. Cocks, Charlie M. Shackleton (Hrsg.): Urban Nature. Enriching Belonging, Wellbeing and Bioculture. Routledge, New York 2021, ISBN 978-0-367-42757-3, Kap. 9
  17. Conjunto urbano-paisagístico nas praias do Leme, Copacabana, Ipanema e Leblon (E-18/000.030/91), Datenblatt im Portal inepac.rj.goc.br, abgerufen am 7. Februar 2025